DGUV Information 207-007 - Zytostatika im Gesundheitsdienst Informationen zur sicheren Handhabung

Abschnitt 5 - 5 Gefährdung beurteilen

Nachdem die relevanten Arbeitsbereiche und Tätigkeiten identifiziert und die möglichen Gefährdungen ermittelt wurden, werden diese im nächsten Schritt der Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Gesundheit der Beschäftigten bewertet. Dies ist der schwierigste Teil der Gefährdungsbeurteilung für Tätigkeiten mit Zytostatika, denn:

  • Obwohl die toxischen Eigenschaften vieler Zytostatika aus Tierversuchen bekannt sind (CMR-Eigenschaften), existieren keine gesundheitsbasierten Beurteilungsgrenzen (zum Beispiel Arbeitsplatzgrenzwerte, biologische Grenzwerte), die zur Bewertung von Zytostatika-Arbeitsplätzen herangezogen werden könnten.

  • Die anhand von Tierversuchsdaten abgeleiteten Erkrankungsrisiken, bezogen auf die aufgenommene Menge eines Zytostatikums (sogenannte Unit-Risks) erlauben eine erste Einschätzung der Größenordnungen (Roller, Eickmann, Nies, 2001). Im Sinne einer "Worst-Case-Betrachtung" wurde insbesondere Cyclophosphamid betrachtet, das aufgrund seiner alkylierenden Eigenschaften zu den besonders kritischen Zytostatika zählt. Die Angaben haben eher einen pragmatischen Stellenwert und erlauben aus Sicht des Arbeitsschutzes keine differenzierten Schlussfolgerungen. Sie ermöglichen jedoch eine grobe Betrachtung der Dosis-Wirkungs-Beziehung.

  • Bei den Unfallversicherungsträgern wurden bisher nur sehr wenige Fälle gemeldet.

Es sollten die unterschiedlichen Freisetzungspotenziale bei Tätigkeiten mit Zytostatika zur Beurteilung der Gefährdung herangezogen werden, da nach heutigem Wissensstand vor allem die Aufnahme von Zytostatika über die Haut zur Belastung der Beschäftigten beitragen kann.

Mit der größten Gefährdung für Beschäftigte im Umgang mit Zytostatika muss aufgrund der Menge, der Konzentration und der Art der Verarbeitungsschritte im Bereich der Zubereitung (in seltenen Fällen auch im Bereich des Wareneingangs) gerechnet werden. Die Gefährdung entsteht dort im Allgemeinen durch Kontamination der Haut infolge von

  • Stäuben (zum Beispiel defekte Injektionsflaschen mit Trockensubstanz, äußere, gegebenenfalls nicht sichtbare Anhaftungen an den Originalverpackungen oder Ampullenflaschen nach Glasbruch),

  • Leckagen (beispielsweise durch Anlieferung beschädigter Originalverpackungen oder beim Aufziehen beziehungsweise Umfüllen und Dosieren der aufgelösten Gemische),

  • Aerosolbildung (etwa beim Auflösen der Trockensubstanz und Aufziehen von Spritzen ohne Verwendung von Schutzsystemen),

  • Versehentlichem Fallenlassen von zytostatikahaltigen Behältnissen.

An zweiter Stelle ist die Applikation von Zytostatika zu nennen. In diesem Bereich werden zwar - abgesehen von Bolusinjektionen - kaum Konzentrate verwendet, wie sie im Zubereitungsbereich der Apotheken üblich sind. Doch kann es zur unbeabsichtigten Freisetzung von zytostatikahaltigen Lösungen beim Vorbereiten und Konnektieren von Infusionen kommen, wenn die Infusionssysteme nicht mit Trägerlösung vorbefüllt werden. Während der Applikation und insbesondere beim Entfernen von Infusionszubehör kann es ebenfalls zu Freisetzungen kommen. Auch Substanzfreisetzungen durch versehentliches Fallenlassen von zytostatikahaltigen Behältnissen sind nicht auszuschließen. Zytostatikalösungen müssen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden, wenn sie bestimmte Konzentrationen (Berücksichtigungsgrenzwerte gemäß CLP-Verordnung) überschreiten (siehe Kapitel 4.1.2).

Allgemein geht von Zytostatika-Fertigarzneimitteln, die unverändert an Patientinnen und Patienten abgegeben werden, keine Gesundheitsgefährdung für die Beschäftigten aus. Jedoch ist eine Gefährdung möglich, wenn bestimmte Manipulationen (zum Beispiel Teilen, Mörsern von Tabletten) durchgeführt werden. Hier muss die entstehende Gefährdung aufgrund der Wirkstoffmenge, der Konsistenz sowie der Art, Dauer und Häufigkeit der Tätigkeit betrachtet werden.

Wenn von den üblicherweise zu entsorgenden Zytostatikamengen ausgegangen wird, so ist die Gefährdung bei der Entsorgung geringer als bei der Zubereitung und der Applikation. Die meisten Abfälle enthalten nur geringe Zytostatikamengen. Sie werden in speziellen Abfallbehältern von anderem Abfall getrennt gesammelt und in verschlossenen Behältnissen transportiert. Allerdings ist eine Gefährdung des Entsorgungspersonals möglich, wenn dieses nicht ausreichend über die richtige Handhabung der Abfälle unterrichtet worden ist (siehe Kapitel 6.6) oder Abfälle nicht ordnungsgemäß übergeben werden.

g_bu_2304_as_4.jpgGut zu wissen!
Die beiden folgenden Punkte gehen auf Einzelaspekte der Gefährdung bei der Zubereitung und der Applikation von Zytostatika ein. Sie können zusammen mit anderen Erkenntnissen in die Einschätzung der Gefährdung einfließen.
  1. 1.

    Zwar ist davon auszugehen, dass keine Belastung der Beschäftigten mit Zytostatika bei Einhaltung der Schutzmaßnahmen eintritt, doch hilft die folgende Überlegung, eine Vorstellung von der inneren Belastung von Beschäftigten zu bekommen, die Zytostatika unter eher ungünstigen Randbedingungen zubereiten:

    In einer Studie von Tanimura (2009) wurde bei vier zytostatikaexponierten Pharmazeuten in Japan im 24-Stunden-Sammelurin eine durchschnittliche Ausscheidung von 0,165 µg Cyclophosphamid gefunden. Da Cyclophosphamid zu 90 % verstoffwechselt wird, werden 10 % unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Daraus errechnet sich eine durchschnittliche tägliche Aufnahme von ca. 1,65 µg Cyclophosphamid. Bei Aufnahme von 1,65 µg/d Cyclophosphamid ergibt dies bei 220 Arbeitstagen/Jahr über eine Lebensarbeitszeit von 50 Jahren(!) eine Menge von: 1,65 µg × 220 × 50 = 18.150 µg = 18,2 mg (Gesamtaufnahme). Die therapeutische Einzeldosis für Patienten liegt bei 10-15 mg/kg Körpergewicht. Bei einem 70 kg schweren Patienten bedeutet dies eine Einzeldosis von 700-1.050 mg Cyclophosphamid. Die Pharmazeuten in der Studie würden also unter der Annahme, dass sie ohne eine Änderung der Arbeitsbedingungen 50 Jahre lang Cyclophosphamid-Infusionen zubereiten würden, rein rechnerisch durchschnittlich etwa 1,7 % einer therapeutischen Einzeldosis aufnehmen.

  2. 2.

    Eine Vorstellung von den Zytostatikamengen, die eine Patientin oder ein Patient während einer Hochdosistherapie mit Zytostatika ausscheidet, erhält man durch folgende Überlegung:

    Unter der ungünstigsten Annahme, dass ein verabreichtes Zytostatikum im Körper nicht verstoffwechselt wird, kann man allein aufgrund des Verdünnungseffektes des üblicherweise im Blut (Volumen ca. 5-7 l) und von anderen Körperkompartimenten aufgenommenen Zytostatikums bei den üblichen Dosierungen davon ausgehen, dass der Massengehalt in Körperflüssigkeiten von Patienten unterhalb von etwa 0,1 % liegt. Die Ausscheidung erfolgt zum größten Teil über den Urin. In der Literatur (Eitel, A. et al., 2004) findet man unter anderem folgende Ausscheidungsanteile: Carboplatin (60 % unverändert innerhalb der ersten 24 h), Cytarabin (90 % unverändert innerhalb der ersten 24 h). Die Ausscheidung über den Schweiß und Speichel erfolgt dagegen nur zu einem sehr geringen Teil.

    Allerdings kann erbrochener Mageninhalt nach oraler Zytostatikagabe erhöhte Mengen an Zytostatika enthalten, wie auch Urin nach intravenöser Hochdosistherapie (zum Beispiel mit Methotrexat), sodass zusätzliche Maßnahmen über den allgemeinen Hygienestandard hinaus sinnvoll sein können. Sitzendes Urinieren sowie der Einsatz selbstreinigender WC-Sitze und der vorzeitige Wechsel von Handschuhen bei Reinigungsarbeiten können hilfreich sein, um Substanzverschleppungen zu vermeiden.

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Abb. 5
Gewichtung der Freisetzungsmöglichkeiten bei verschiedenen Tätigkeiten

Beim Transport applikationsfertiger Zytostatika-Infusionen von einer zubereitenden Apotheke zur Station im Krankenhaus oder zu einer onkologischen Praxis kann die befördernde Person unter Verwendung geeigneter Transportbehältnisse in der Regel nicht mit Zytostatika in Kontakt kommen, da sie lediglich die Transportbox befördert und nicht öffnet.

Die konsequente und gewissenhafte Umsetzung von Schutzmaßnahmen hat in den letzten 15 Jahren zu einer deutlichen Abnahme der gemessenen Umgebungsbelastungen mit Zytostatika in den betreffenden Unternehmen geführt (Böhlandt, A.; Schiert, R., 2016). Gleichzeitig ist die Benutzung von Schutzhandschuhen bei Tätigkeiten mit Zytostatika im Gesundheitsdienst inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden, sodass davon ausgegangen werden kann, dass eine dermale Aufnahme von Zytostatika eigentlich nur unter ungünstigen Umständen (zum Beispiel bei Unfällen) noch möglich ist. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten nach heutigem Wissensstand nicht gefährdet ist, wenn die in der TRGS 525 und dieser DGUV Information beschriebenen Schutzmaßnahmen eingehalten werden.

Im Einzelfall, beispielsweise, wenn das in der TRGS 525 und in dieser DGUV Information beschriebene Schutzniveau nicht eingehalten wird, kann es notwendig sein, dass eine Eintragung in das zu führende Verzeichnis von Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen erforderlich ist. Weitere Informationen dazu finden Sie in der TRGS 410 (Expositionsverzeichnis bei Gefährdung gegenüber krebserzeugenden oder keimzellmutagenen Gefahrstoffen der Kategorie 1A oder 1B) und auf der Website des Instituts für Arbeitsschutz (IFA, Suchbegriff: ZED) sowie auf der Webseite der BGW (Suchbegriff: ZED).