DGUV Information 207-007 - Zytostatika im Gesundheitsdienst Informationen zur sicheren Handhabung

Abschnitt 4.1 - 4.1 (Toxische) Eigenschaften von Zytostatika

Fast alle Zytostatika verändern die Struktur und/oder Funktion des genetischen Materials, wodurch Wachstum und Vermehrung der Tumorzellen gehemmt werden. Da die biochemischen Angriffspunkte in gesunden Zellen und Tumorzellen die gleichen sind, werden bei der Therapie mit Zytostatika auch gesunde, vor allem aber schnell wachsende Zellen und Zellverbände geschädigt. Bei Patientinnen und Patienten, die mit Zytostatika behandelt werden, muss daher mit zellschädigenden Wirkungen vor allem auf das Knochenmark, die Haut und Schleimhaut und die Keimzellen gerechnet werden. Die Schädigungen können sowohl krebserzeugender, keimzellmutagener als auch reproduktionstoxischer Natur sein. Vereinzelt wurde die Bildung von sogenannten Zweit- oder Sekundärtumoren infolge einer Behandlung mit Zytostatika beobachtet. Sie wird vor allem der alkylierenden Wirkung bestimmter Zytostatika (Alkylanzien) zugeschrieben (Boffetta, P.; Kaldor, J., 1994). Diese Erkenntnisse aus der therapeutischen Anwendung lassen sich nicht auf die Beschäftigten übertragen, weil die toxischen Wirkungen dosisabhängig sind und auch vom Aufnahmeweg abhängen.

Wie wirken verschiedene Zytostatika?
AlkylanzienAlkylierende Substanzen führen durch chemische Reaktion mit genetischem Material (DNS = Desoxyribonukleinsäure) zur Schädigung der Nukleinsäuren, wodurch die Replikation und Zellteilung beeinträchtigt wird.
AntimetaboliteDiese Substanzen sind den DNS- und RNS-Bausteinen ähnliche Substanzen, die synthesephasespezifisch als falsche Substrate die Enzyme der Nukleinsäuresynthese hemmen.
Mitosehemmstoffe (Vincaalkaloide, Taxane)Sie hemmen mitosephasespezifisch die Zellteilung durch Schädigung des Spindelapparates, indem sie die Kernspindel zerstören oder übermäßig stabilisieren.
TopoisomerasehemmstoffeSie hemmen die Wirkung bestimmter Enzyme (Topoisomerase I und Topoisomerase II).
Sonstige zytotoxische SubstanzenNach unterschiedlichen Mechanismen wirken Bleomycin, Hydroxyharnstoff, Zytokine wie Interleukin und Interferon sowie verschiedene weitere Substanzen zytotoxisch.
Monoklonale Antikörper (MAK) zur Tumortherapie (zum Beispiel Rituximab, Trastuzumab, Bevacizumab)Sie binden an Oberflächenantigene, die auf Tumorzellen vermehrt exprimiert werden, und hemmen Signalwege, die das Wachstum der Tumorzellen oder auch das Gefäßwachstum hemmen. Konsens besteht darüber, dass MAK (ausgenommen Konjugate mit traditionellen Zytostatika-Wirkstoffen) nicht genotoxisch oder keimzellmutagen sind. Darin unterscheiden sie sich von den herkömmlichen Zytostatika. Bei den meisten monoklonalen Antikörpern (MAK) werden jedoch reproduktionstoxische Eigenschaften angenommen. Es wird außerdem eine sensibilisierende Wirkung kleiner Dosen diskutiert, die im Fall einer therapeutischen Anwendung die Wirksamkeit herabsetzen könnte.
KinaseinhibitorenSie hemmen tumorspezifische Signaltransduktionskaskaden, an denen Kinasen maßgeblich beteiligt sind. Tyrosinkinase-Inhibitoren zielen auf eine spezifische Hemmung dysregulierter Tyrosinkinasen bei der chronisch myeloischen Leukämie (CML) und anderen malignen Erkrankungen ab. Die Einnahme erfolgt meist als Tablette oder Kapsel. Der bekannteste Wirkstoff dieser Gruppe, das Imatinib, erwies sich im Tierversuch als reproduktionstoxisch.

4.1.1 Akute Toxizität

Unter lokaler Einwirkung von Zytostatika in reiner Form oder in hochkonzentrierten Arzneimittelzubereitungen können reizende Effekte (zum Beispiel Rötung, Brennen, Juckreiz der Haut) auftreten.

Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über mögliche Ätz- und Reizwirkungen auf die Haut, Augenschädigungen und -reizungen sowie Reizungen der Atemwege durch Kontakt mit gängigen Zytostatika in reiner Form oder als hochkonzentrierte Zubereitung. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Gewebezerstörende (nekrotisierende) Effekte wurden nur bei Patientinnen und Patienten während einer Chemotherapie beobachtet, wenn bei der Gabe von intravenösen Infusionen versehentlich ein Teil der Infusionslösung in das umgebende Armgewebe anstelle der dafür vorgesehenen Vene gelangt. Dies kann im beruflichen Setting nur durch ein unfallartiges Ereignis auftreten (zum Beispiel durch eine Stichverletzung mit einer zytostatikahaltigen Kanüle).

Wirkungen bei direktem Kontakt mit einzelnen Zytostatika
Ätz-/Reizwirkung auf die HautSchwere Augenschädigung beziehungsweise AugenreizungSpezifische Zielorgan-Toxizität (einmalige Exposition); kann die Atemwege reizen
Bendamustin-X-
CarboplatinXXX
Cisplatin-XX
Docetaxel-X-
FluorouracilXXX
Gemcitabin-X-
MethotrexatXX-
MitomycinXXX
OxaliplatinXXX
PaclitaxelXXX
PemetrexedXX-
TemozolomidXXX

4.1.2 Chronische Toxizität

Viele Zytostatika weisen in Tierversuchen krebserzeugende, keimzellmutagene oder reproduktionstoxische (CMR) Eigenschaften auf. Sehr selten sind auch sensibilisierende Eigenschaften wie auch bei monoklonalen Antikörpern möglich (zum Beispiel ist Cisplatin haut- und atemwegssensibilisierend).

Krebserzeugende Stoffe werden gemäß der CLP(Classification, Labelling and Packaging)-Verordnung folgendermaßen kategorisiert: *

Kategorie 1
Bekanntermaßen oder wahrscheinlich beim Menschen karzinogen; die Einstufung erfolgt anhand epidemiologischer und/oder Tierversuchsdaten und kann weiter in die Kategorien 1A und 1B differenziert werden:
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Kategorie 1A
Stoffe, die bekanntermaßen beim Menschen karzinogen sind; die Einstufung erfolgt überwiegend aufgrund von Nachweisen beim Menschen.
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Kategorie 1 B
Stoffe, die wahrscheinlich beim Menschen karzinogen sind; die Einstufung erfolgt überwiegend aufgrund von Nachweisen bei Tieren.
Kategorie 2
Verdacht auf karzinogene Wirkung beim Menschen.
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Die Einstufung in die Kategorie 2 erfolgt aufgrund von Nachweisen aus Studien an Tieren oder aus Studien beim Menschen, die einen Verdacht auf karzinogene Wirkung begründen. Sie sind jedoch nicht hinreichend genug für eine Einstufung des Stoffes in Kategorie 1A oder 1B. Die entsprechenden Kategorien für keimzellmutagene und reproduktionstoxische Stoffe sind analog aufgebaut.

In Deutschland muss außerdem die TRGS 905 "Verzeichnis krebserzeugender, keimzellmutagener oder reproduktionstoxischer Stoffe" berücksichtigt werden, die eine Einstufung weiterer Stoffe in die Kategorien 1A, 1B oder 2 beziehungsweise auch von der CLP-Verordnung abweichende Einstufungen enthält und auch krebserzeugende Arzneistoffe als besondere Stoffgruppe beschreibt. Auch Hersteller von Zytostatika müssen dies berücksichtigen und gegebenenfalls selbst die Stoffe einstufen.

Zytostatikahaltige Gemische (zum Beispiel Infusionslösungen) müssen bei der Gefährdungsbeurteilung ebenfalls berücksichtigt werden, wenn diese bestimmte Konzentrationen überschreiten (Berücksichtigungsgrenzwerte gemäß CLP-Verordnung). Dies gilt unter anderem für Zytostatika-Infusionen, wenn sie einen krebserzeugenden (Kategorie 1A oder 1B) oder mutagenen Wirkstoff (Kategorie 1A oder 1B) in einer Konzentration größer/gleich 0,1 Gewichtsprozent beziehungsweise einen reproduktionstoxischen Wirkstoff (Kategorie 1A oder 1B) in einer Konzentration größer/gleich 0,3 Gewichtsprozent enthalten. Die CLP-Verordnung enthält für weitere Gefahrenkategorien (zum Beispiel akut toxisch, ätzend) Angaben zu Berücksichtigungsgrenzwerten.

Die Einstufung nach den Kriterien der CLP-Verordnung kann den Sicherheitsdatenblättern entnommen werden.

Informationen zur Einstufung von mehr als 120.000 Stoffen (auch Arzneistoffe) finden Sie in der Datenbank der European Chemicals Agency (ECHA) unter: https://echa.europa.eu/de/information-on-chemicals. Die Tabelle im Anhang I dieser DGUV Information enthält für die am häufigsten eingesetzten Zytostatika eine Zuordnung zu den Kategorien nach der CLP-Verordnung.

Angaben zur Einstufung von weiteren Zytostatika und monoklonalen Antikörpern für die Rezeptur sind in der BGW-Publikation "Bewertung der gefährlichen Eigenschaften von antineoplastisch wirksamen Arzneistoffen des ATC-Code L01 und L02 zum Schutz der Beschäftigten" zu finden, die von der Website der BGW als PDF-Datei heruntergeladen werden kann.

Die Gefährdungsbeurteilung muss anhand der verfügbaren Informationen (Einstufungskriterien gemäß CLP-Verordnung, Fachinformationen der Hersteller etc.) durchgeführt werden. Soweit sonstige Kenntnisse über krebserzeugende, keimzellmutagene und/oder reproduktionstoxische Eigenschaften der Arzneimittel bekannt sind, müssen sie entsprechend berücksichtigt werden.

Da viele Zytostatika krebserzeugende, keimzellmutagene oder reproduktionstoxische Eigenschaften besitzen, empfiehlt es sich, insbesondere beim Einsatz wechselnder Zytostatika - aus Gründen der Praktikabilität - diese generell so zu behandeln, als wenn sie diese Eigenschaften hätten. Falls ausschließlich Zytostatika eingesetzt werden, von denen keine der genannten Eigenschaften ausgehen (wie Interleukine), können sie differenziert betrachtet werden.

Quelle: Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen vom 16. Dezember 2008 (CLP-Verordnung).

Anhang VI der CLP-Verordnung enthält harmonisierte Einstufungen; Einstufungen der International Agency for Research on Cancer (IARC), der Ständigen Senatskornmission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK-Kommission) oder anderer nationaler Gremien können abweichen. Auf die Darstellung weiterer Einstufungs- und Bewertungssysteme wird an dieser Stelle verzichtet.