Fachbeitrag  Gefahrstoffe, Arbeitssicherheit, Recht und Urteile  

Harnblasenkrebs: Aromatische Amine ohne Grenzwert ursächlich für Berufskrankheit

Harnblasenkrebs als Berufskrankheit?
Foto: © H_Ko - stock.adobe.com

Ein Schweißer hat während seiner Berufstätigkeit über Jahre Kontakt mit aromatischen Aminen. Später wurde bei ihm Harnblasenkrebs diagnostiziert. Handelt es sich um eine Berufskrankheit? 

»Die Dosis macht das Gift« – diese schon vor einem halben Jahrtausend von dem Schweizer Naturwissenschaftlicher Paracelsus (1494 bis 1541) getroffene Erkenntnis gilt bis in die heutige Zeit hinein, nicht nur für die Herstellung pharmazeutischer Produkte.  

Auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV), ist sie vielfach entscheidend für die Antwort auf die Frage, ob der Umgang mit bestimmten chemischen Substanzen im Rahmen einer oft Jahrzehnte währenden Berufstätigkeit letztlich als entscheidender Auslöser für eine Berufskrankheit (BK) angesehen werden muss, mit der Konsequenz entsprechender GUV-Leistungen. Oder ob die Dosis, ganz im Sinne von Paracelsus, nicht ausreichte, um als allein ursächlich und maßgeblich anerkannt zu werden. 

Der für das Unfallversicherungsrecht zuständige zweite Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hatte am 27. September 2023 über den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang von Harnblasenkrebs nach langer Berufstätigkeit mit aromatischen Aminen, konkret: o-Toluidin, zu entscheiden (B 2 U 8/21 R). 

Der Fall 

Der Revisionskläger (Jahrgang 1956) war von 1998 bis 2013 als Schweißer bei einem Großküchen-Hersteller unter anderem damit betraut, die Dichtigkeit von Schweißnähten unter Einsatz des schon damals als krebserregend bekannten aromatischen Amin o-Toluidin zu überprüfen. 2014 wurde bei ihm Harnblasenkrebs diagnostiziert. 

Die daraufhin auf Leistungen nach Nr. 1301 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) in Anspruch genommene Berufsgenossenschaft (BG) Holz und Metall lehnte die Feststellung einer entsprechenden Berufskrankheit (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine) ab und verwies dabei den Kläger unter anderem auf seinen langjährigen Nikotinkonsum, der zu einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos geführt habe. 

Die baden-württembergische Sozialgerichtsbarkeit kam zu unterschiedlichen Bewertungen der Sach- und Rechtslage. Einem klägerischen Obsiegen in erster Instanz folgte eine Niederlage in der Berufung. 

Verfahrensgang: 

  • Sozialgericht (SG) Reutlingen, Urteil vom 14.12.2016 –S 4 U 2792/15-,
  • Landesozialgericht (LSG) Baden–Württemberg, Urteil vom 29.09.2020 –L 9 U 488/17-. 

Die Entscheidung 

Die Revision des Klägers vor dem Bundessozialgericht (BSG) war, fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem abschlägigen LSG-Urteil, letztlich erfolgreich (BSG vom 27.09.2023 -B 2 U 8/21 R-). 

Im Gegensatz zum LSG sah das BSG die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit im Sinne der Klage als erfüllt an. Der Kläger hatte im fraglichen Zeitraum, also über immerhin 15 Jahre, den Wirkstoff o-Toluidin eingeatmet und auch über die Haut aufgenommen. Auf das Erreichen einer Belastungsdosis, etwa in Höhe des früher einmal geltenden Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 μg o-Toluidin/m3 kommt es nicht an, weil die BK Nr. 1301 keinen solchen Mindestexpositionswert enthält. 

Auch das Vorliegen der erforderlichen medizinischen Voraussetzungen wurde vom BSG bejaht. Der Ursachen-Zusammenhang zwischen dem beim Kläger eingetretenen Harnblasenkrebs und den vorhergehenden beruflich bedingten Einwirkungen von o-Toluidin war bereits in den Vorinstanzen unstreitig festgestellt worden. Hieran war das BSG gebunden. 

Aromatische Amine sind daher, so das BSG, abstrakt – generell geeignet, Harnblasenkrebs zu verursachen. Eventuelle weitere, auch außerberufliche Ursachen (Medikamenten-Einnahme, Steinleiden, Bestrahlungen) waren demnach auszuschließen. 

Der Annahme des LSG, dass es »gute Gründe für eine andere Verursachung wie für die berufliche Einwirkung des Stoffes gäbe«, ist das BSG mit der an sprachlicher Deutlichkeit kaum mehr zu übertreffenden Feststellung entgegengetreten, dass damit »methodisch und rechtlich unzulässig unbekannte Faktoren berücksichtigt worden seien«. 

Einordnung der Entscheidung 

Die Entscheidung liegt vollauf in der Konsequenz bisheriger Entscheidungen des höchsten deutschen Sozialgerichts. Entscheidungen wie die der Vorinstanz bilden in vermeidbarer Weise den Nährboden für Auseinandersetzungen zwischen den Sozialpartnern, namentlich gewerkschaftlicher Forderungen nach einer Verschärfung und Ausweitung des BK-Rechts im Rahmen der allein von den Arbeitgebern finanzierten gesetzlichen Unfallversicherung. 

Der »Königsweg« sollte in der Entwicklung neuer Stoffe und Substanzen liegen, die, bei gleichem technischem Nutzen, die gesundheitlichen Risiken bisher eingesetzter Chemikalien völlig eliminieren.

Quelle/Text: Dr. jur. Kurt Kreizberg

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Über den Autor

Dr. jur. Kurt Kreizberg
Rechtsanwalt in Solingen
seit 2013: Lehrbeauftragter für Arbeits- und Sozialrecht an der FOM Essen
seit 2016: Autor des Loseblatt-Kommentars (Carl Heymanns Verlag)
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